Die fünfjährige Juliana kann weder gehen noch sprechen. Genauso wenig wie ihre drei Brüder zwischen acht und zwölf Jahren. Der Vater trägt seine Kinder, oder sie bewegen sich krabbelnd. Die Familie gehört den indigenen Munduruku an und lebt im Dorf Curimã nahe der Mündung des riesigen Flusses Tapajós in den Amazonas. Hier und weiter flussaufwärts ist der Bedarf an Rollstühlen auffällig hoch. Viele Kinder werden mit Missbildungen geboren und sind in ihrer Entwicklung gestört. Erwachsene erblinden und verlieren die Kraft in Armen und Beinen.
In der Tapajós-Region in Brasilien leiden Kinder und Erwachsene gehäuft an schweren Missbildungen, Lähmungen und Blindheit. Alles typische Symptome von Vergiftungen mit Quecksilber. Das Nervengift wird beim Goldabbau eingesetzt und verseucht Landschaft, Wasser, Fische und Menschen. Die Schädigungen sind nicht heilbar. Zusammen mit den indigenen Munduruku bekämpft der WWF die Ursachen und baut eine bessere Gesundheitsversorgung auf.
Hohe Quecksilberbelastung
Die indigene Bevölkerung der Munduruku und die ebenfalls getesteten Fische aus der Region sind über die zulässigen Grenzwerte hinaus mit Quecksilber belastet. Das ergab eine Studie des WWF zusammen mit einer lokalen Organisation. Besonders hoch ist die Belastung in den Gebieten mit dem meisten Bergbau.
Bereits seit den 1980er Jahren ist die Heimat der schätzungsweise 14.000 Munduruku in Nordbrasilien begehrtes Ziel für Goldbaufirmen und illegale Goldschürfer. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich der Trend aber noch beschleunigt: Um über 500 Prozent ist der illegale Goldabbau seit 2010 angestiegen. Quecksilber trennt das Edelmetall von Verunreinigungen und wird anschließend rücksichtslos in der Umwelt entsorgt.
Indigene im Kampf gegen den giftigen Goldabbau unterstützen
„Als Kind hatte ich immense Freiheit. Wir fischten in Flüssen und Seen, wir sammelten Früchte und Samen. Dann wurde die Natur von Baggern und anderen Maschinen in Wüste verwandelt.“, erzählt die 39-jährige Alessandra Korap Munduruku im April 2023 im Gespräch mit der englischen BBC. Sie hat einen seltenen Sieg gegen diese Verwüstung errungen.
Dank einer lautstarken Kampagne der indigenen Frau zog der Bergbaugigant Anglo American 27 Forschungsanträge zum Abbau in indigenen Gebieten zurück. Der WWF unterstützt die Indigenen im Kampf um ihre Rechte und ihre Gesundheit. Die Munduruku wollen sich Gehör verschaffen, und dafür brauchen sie Beweise in Form von medizinischen Daten. Sie brauchen eine bessere Gesundheitsversorgung, und sie müssen weiteren Vergiftungen vorbeugen.
Quecksilber: Besonders gefährlich im Mutterleib
Bei schwangeren Frauen passiert das Quecksilber die Plazenta und vergiftet den sich entwickelnden Fötus bis zu siebenmal stärker als postnatal, was zu dauerhaften Schäden führt. In einer Langzeitstudie untersucht der WWF zusammen mit der Partnerorganisation Fiocruz die Quecksilberbelastung von Schwangeren und Neugeborenen in zehn verschiedenen Dörfern der Munduruku.
Wir unterstützen außerdem die Ausbildung lokaler Gesundheitsfachkräfte, um bei erkrankten Kindern und Erwachsenen in Schnelltests festzustellen, ob es sich um Quecksilbervergiftungen handelt. Wir stellen Analysegeräte und Instrumente zur Entnahme biologischer Proben zu Verfügung, untersuchen genetische und neurologische Veränderungen und befragen betroffene Familien.
„Wir brauchen fundierte, wissenschaftliche Erkenntnisse. Nur so können wir in Zukunft Quecksilbervergiftungen verhindern, abmildern und haben starke Argumente in der Hand.“
Die Ergebnisse sollten allen eine Warnung sein
Ein Bericht wurde bereits dem Brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva übergeben. Eine weitere Veröffentlichung richtet sich vor allem an die Bevölkerung Brasiliens. Sie trägt den Titel „Illegaler Goldabbau in Amazonien – Verbrechen, Verseuchung und Tod“ und soll Bewusstsein für das Problem schaffen, auch bei den politischen Entscheidungsträger:innen.
In Workshops und weiteren Maßnahmen vor Ort gibt der WWF die wissenschaftlichen Erkenntnisse an die Betroffenen weiter. Etliche der abgeschiedenen Gemeinden, die häufig nur per Boot erreichbar sind, konnten wir inzwischen für die Gefahr, die Ursachen und Auswirkungen der Quecksilberkontamination sensibilisieren, damit sie sich schützen.
Wie lassen sich Quecksilbervergiftungen verhindern?
Kultur und Leben der indigenen Munduruku sind seit Jahrhunderten eng verwoben mit der Natur des Amazonas. Der Fisch aus dem Tapajós ist ihre wichtigste Proteinquelle. Doch bestimmte Fischarten und Fischgründe sollten sie heute dringend meiden. Das zeigt eine Analyse des WWF gemeinsam mit der brasilianischen Gesundheitsorganisation Fiocruz. Auch das Flusswasser ist nicht mehr unbedenklich trinkbar.
Die indigenen Gemeinschaften haben keine Zeit, auf tiefgreifende politische Entscheidungen zu warten. Der WWF unterstützt sie darin, sofortige Lösungen zu entwickeln. Wir planen und installieren mit besonders betroffenen Gemeinschaften beispielsweise tiefe Brunnen, deren Wasser sicherer ist. Und wir verschaffen den Munduruku Gehör. Sie müssen ihre Perspektive in die Diskussion um die Quecksilberverschmutzung und ihre Vermeidung einbringen können.
Goldgrube Amazonas
Das wahre Gold des Amazonas sind seine artenreichen Wälder und Flüsse. Die indigenen Völker, die in diesen Wäldern leben, tragen entscheidend zu ihrem Schutz bei. Landraub, Ackerbau, Holzgewinnung und die Gold- und Ölvorkommen unter der Erde bedrohen indigene Territorien und Ökosysteme gleichermaßen.
Der WWF stellt sich mit seinem größten Projekt in Südamerika an die Seite der Indigenen, um mit ihnen die wertvolle Natur ihrer Heimat zu schützen. Der Kampf gegen den Goldabbau und die Quecksilbervergiftungen ist Teil dieses Projektes, das seit 2022 läuft und schon einige Erfolge erzielen konnte.
- Gemeinsam für den Wald: Indigene Territorien schützen
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