Der Abdruck im Schnee gleicht dem einer Katze, ist aber fast so groß wie eine menschliche Hand. Nur äußerst selten finden Ranger:innen in der chinesischen Amur-Region solche Spuren. Umso größer war die Freude bei den fünf Ranger:innen, die Anfang Januar 2022 im Huangnihe Wald in der Jilin Provinz im Nordosten Chinas auf Tatzen-Abdrücke von Amur-Tigern stießen.
Es sind Funde wie diese, die Hoffnung machen, dass mehr und mehr Tiger in diese Region zurückkehren, in der sie vor 25 Jahren durch Lebensraumverlust und Wilderei mit Schlingfallen beinahe ausgestorben waren.
Inzwischen werden hier wieder mehrere Dutzend Tiger mithilfe von Kamerafallen identifiziert. Und es könnten noch viel mehr werden.
Platz für bis zu 300 Amur-Tiger
WWF-Expert:innen bestätigten später: Die Spuren stammten von einem Amur-Tiger. Der Tiger hatte offenbar ein Reh gejagt, dessen schmale Hufabdrücke in der Nähe gefunden wurden.
Eine Studie mit WWF-Beteiligung beschreibt zum ersten Mal, dass in den weiten Landschaften der chinesischen Amur-Region sogar bis zu 300 Tiger Lebensraum finden könnten. Dabei geht es um diese vier Schutzgebiete im Nordosten Chinas nahe der Grenze zu Russland: Laoyeling, Zhangguangcailing, Wandashan und Lesser Khinghan Mountains.
Auf russischer Seite haben sich die Tigerzahlen in den letzten Jahren äußert erfolgreich entwickelt. Und auch auf der chinesischen Seite steigen die Tigerzahlen, allerdings nur sehr langsam.
Den Tigern fehlen große Beutetiere
Das größte Problem ist ein Mangel an Beutetieren und damit Nahrung für die Tiger aber auch Amur-Leoparden. Insbesondere die großen Hirsche wie Rotwild und Sikawild fehlen. Ein ausgewachsener Tiger in der Amur-Region braucht am Tag etwa neun Kilogramm Fleisch, also 60 bis 70 Rothirsche im Jahr. Aber Tiger brauchen nicht nur ausreichend Beutetiere, sondern auch große Mahlzeiten.
Von Beute, die unter 50 Kilogramm wiegt, können sie sich auf Dauer nicht ernähren, denn der energetische Aufwand der Jagd steht in keinem guten Verhältnis zur Nahrungsenergie in Form von Fett und Proteinen von solch kleineren Tieren. Tiger können mühelos Beute überwältigen, die schwerer ist als sie selbst. In Russland gibt es deutlich mehr Rotwild, das in dieser Region bis zu 250 Kilogramm auf die Waage bringt, während auf chinesischer Seite Sibirische Rehe dominieren, die nur maximal 50 Kilogramm schwer sind. Der Lebensraum ist also da – nur die Nahrung reicht nicht aus.
Deshalb ist die Unterstützung der Huftiere durch Zufütterung so wichtig, wie zum Beispiel im Winter 2021/ 2022, als extremer Schneefall in der Amur-Region dazu führte, dass viele Rehe und Hirsche starben und auch die Tiger zu verhungern drohten. Um die Situation zu entschärfen, richteten Ranger:innen Futterstellen für das Wild ein.
Maßnahmen zum Schutz des Amur-Tigers
Schon seit der Gründung des WWF-Büros in Jilins Hauptstadt Changchun im Jahr 2006 werden in großen Gattern Sika- und Rothirsche vermehrt und anschließend freigelassen, um wieder stabile Beutetier-Populationen aufzubauen. Damals erschien die Rückkehr von Großkatzen noch in weiter Ferne. Doch der Zeitpunkt war günstig: In der Regierung hatte ein Umdenken stattgefunden. Ein Holzeinschlagverbot wurde erlassen, damit die ausgeplünderten Wälder sich wieder erholen konnten.
Der WWF half auch mit, den „Tiger und Leoparden Nationalpark Nordost-China“ auszuweisen, in dem zwölf bereits existierende Schutzgebiete miteinander verbunden wurden. Damit wurde eine zusammenhängende Schutzgebietsfläche von über 1,4 Millionen Hektar geschaffen.
Damit Tiger sich ausbreiten können, braucht es aber zusätzliche ökologische Korridore zwischen dem Nationalpark und weiter westlich gelegenen Schutzgebieten. Bereits jetzt ist die Zerschneidung der Landschaft durch Verkehr und Infrastruktur ein Haupthindernis für die Ausbreitung der Tiger und Leoparden in das Inland Nord-Ostchinas. Dieses Problem hat die chinesische Regierung erkannt und als Priorität in der Schutzarbeit definiert.
SMART gegen Wilderei
Weitere Maßnahmen beim Tigerschutz sind regelmäßige Trainings und moderne Ausrüstung der Ranger:innen, damit diese die riesigen geschützten Wälder effektiver kontrollieren können. Als besonders wichtige Hilfe erwies sich dabei der Einsatz moderner Software. So werden zum Beispiel mit dem „Spatial Monitoring and Reporting Tool” (SMART) die gesammelten Daten aus Patrouillen und Wildbeobachtungen ausgewertet und aufbereitet, um besonders die Brennpunkte der Wilderei gezielt zu kontrollieren. Mithilfe des SMART-Verfahrens wuchs die von Ranger:innen kontrollierte Fläche seit 2006 um das Zehnfache und beträgt aktuell 1,6 Millionen Hektar.
Ein weiterer Erfolg: Seit 2014 verringerte sich die Zahl der Schlingfallen um 80 Prozent. Aktuell wird im Durchschnitt auf zehn Quadratkilometern nur noch eine Schlinge gefunden.
In manchen Gebieten kann es in Zukunft auch notwendig sein, einzelne Tiger umzusiedeln, um die langfristige Ansiedlung anzustoßen und ihr Verbreitungsgebiet zu vergrößern. Dies ist im Mai 2021 zum ersten Mal geschehen, als ein Tiger in einer entlegeneren Region des Nationalparks ausgesetzt wurde und könnte zu einem Modell für die zukünftige Arbeit werden. Die Forscher:innen der Studie empfehlen auch zu untersuchen, ob verwaiste Jungtiere Lebensräume neu besetzen könnten.
Das Ziel: 300 Amur-Tiger im Nordosten Chinas
Ob irgendwann tatsächlich wieder 300 Tiger durch die Wälder der chinesischen Amur-Region streifen werden, kann zum jetzigen Zeitpunkt niemand sagen. Doch es gibt Anlass zu Optimismus: Die Überlebenschancen der Tiger haben sich deutlich verbessert.
Sie wandern zunehmend aus dem russischen Teil zurück in das chinesische Gebiet. Und zwei der wichtigsten Voraussetzungen für die Erhöhung der Tigerzahlen in der Amur-Region sind gegeben: Es gibt ausreichend Lebensraum und der politische Wille ist da, dem Tigerschutz in der Amur-Region Priorität einzuräumen. Jede entdeckte Tigerspur ist sowohl ein Zeichen der Hoffnung als auch eine Ermutigung, weiter für die Zukunft von Chinas Amur-Tigern zu kämpfen.
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