Die Handelsklassenverordnung, die unter anderem auch die Kartoffel betraf, wurde 2011 abgeschafft. Seitdem werden die Handelsnormen für Kartoffeln in Deutschland ausschließlich über freiwillige, branchenübliche Qualitätsnormen geregelt. Für den Lebensmittelhandel spielt die Optik sowie die bequeme Schälbarkeit der Knollen eine herausragende Rolle. Kartoffeln sollten eiförmig sein, eine bestimmte Farbgebung, eine makellose Schale und eine bestimmte Größe haben. Verfärbungen sind nur in einem äußerst geringen Umfang erlaubt. Ein gutes Beispiel ist oberflächlich auftretender Schorf, der aus optischen Gesichtspunkten kaum akzeptiert wird, der aber die Genießbarkeit der Kartoffel in keiner Weise schmälert. Zu den weiteren, vorwiegend optischen Anforderungen gehören die sogenannten „Missbildungen“ sowie Unter- und Übergrößen. In den Befragungen und der Vor-Ort-Besichtigung wurde deutlich, welch minimale Mängel es nur braucht, damit hochwertige Speisekartoffeln abgewertet und aussortiert werden. Ob sie schmecken oder reich an Vitaminen oder Mineralstoffen sind, spielt hierbei keine Rolle.
Jährlich gehen in Deutschland 60.000 Lastwagen-Ladungen Kartoffeln verloren. Nicht das perfekte Äußere, sondern die inneren Werte sollten zählen.
Aktuell verzehren wir in Deutschland etwa 60 Kilogramm Kartoffeln pro Person und Jahr, bevorzugt in verarbeiteter Form wie Pommes frites oder Chips. Als besonders wertschätzend kann man den Umgang mit diesem Nahrungsmittel hierzulande trotzdem nicht bezeichnen. Laut WWF-Schätzungen gehen jährlich rund 1,5 Millionen Tonnen Kartoffeln auf dem Weg vom Acker bis zum Teller verloren. Das sind umgerechnet 60.000 Laster bei einem Füllgewicht von 25 Tonnen.
Von den 1,5 Millionen Tonnen verschwendeten Kartoffeln verlässt rund die Hälfte bereits unmittelbar nach der Ernte die Wertschöpfungskette. Der Grund hierfür liegt in den Qualitätsanforderungen des Handels für Speisekartoffeln. In enger Zusammenarbeit mit Kartoffelbauer Carsten Niemann (Biokartoffel-Nord) wurde untersucht, aufgrund welcher Vorgaben aus dem Handel die Verluste zustande kommen und welche Auswirkungen sich für Kartoffelbauern ebenso wie für die Umwelt ergeben.
Kartoffel-Studie zum Download
Die Anforderungen an die Kartoffel von heute
Gewaschen und schlecht für Umwelt und Erzeuger:innen
Der Verkauf gewaschener Kartoffeln ist mittlerweile zum Standard geworden. Um den Anforderungen des Handels zu entsprechen, werden die Kartoffeln in großen Waschanlagen gereinigt und danach poliert. Dies erhöht jedoch in mehrfacher Hinsicht die Verlustrate. Die feine Erdschicht, die ihr nach der Ernte anhaftet, ist ein natürlicher Schutz vor allem vor Licht. Die Kartoffel wird lichtempfindlicher, gegebenenfalls beim Waschen beschädigt und durch die Feuchtigkeit anfällig für zum Beispiel Pilzbefall. Das Waschen führt darüber hinaus zu einer erhöhten Aussortierungsquote, da leichte Verfärbungen und Stellen an den Kartoffeln nunmehr besser sichtbar werden. Gleiches gilt für die Abpackung in Netzen oder teildurchsichtigen Plastikbeuteln. Licht bringt die Kartoffel dazu, vorzeitig zu keimen und setzt auch die Bildung des giftigen Solanins in Gang, das die Kartoffel grün werden lässt. Gängige Verbrauchertipps zur Lagerung von Kartoffeln empfehlen einen 6 Grad Celsius kühlen, dunklen Keller.
Die aussortierten Kartoffeln
Rund 30 bis 35 Prozent der ökologisch angebauten Kartoffeln werden beim Sortieren im Packbetrieb ausgesiebt. Bei der konventionellen Ware sind es rund 16 Prozent. Durch die zweifelhaften Qualitätsanforderungen wird gerade die ökologische Landwirtschaft benachteiligt, obwohl diese die nachhaltigste Form der Landbewirtschaftung ist. So treten durch den Verzicht zum Beispiel von chemisch-synthetischen Pflanzenschutz vermehrt Schalenfehler sowie kleinere Größen auf. Diese „Mängel“ haben weder Einfluss auf die Qualität bzw. die „inneren Werte“ der Kartoffel, wie Nährstoffe, Mineralien, Vitamine oder Geschmack, noch auf die Haltbarkeit.
Obwohl also am nachhaltigsten produziert, wird die Natürlichkeit der Biokartoffeln mit Selektion bestraft. Im Gegensatz dazu: im konventionellen Landbau stehen für den Kartoffelanbau inklusive Lagerung mehr als über 340 Pflanzenschutzmittel zur Verfügung. Für den WWF gilt: lieber krumm und mit Schalenfehlern als der Einsatz von Pestiziden.
Bei den aussortierten Bio-Speisekartoffeln geht der WWF von 30.000 bis 50.000, bei den konventionellen von etwa 700.000 Tonnen aus. Einer weiteren Vermarktung bzw. Verarbeitung vielfältige Probleme entgegen. So erfordert die Herstellung von Kartoffelerzeugnissen, wie zum Beispiel Pommes Frites, besondere Sorteneigenschaften, die gemischte aussortierte Ware nicht gewährleisten kann. Der größte Teil der eigentlich hochwertigen Knollen werden dann entweder zu Bioenergie, Tierfutter oder industrieller Stärke verramscht.
Gängige Praxis ist es darüber hinaus, dass die Erzeuger nur für jenen Anteil der Ware die vereinbarten Preise erhalten, die den Qualitätsanforderungen genügen. Das heißt im Umkehrschluss, dass die Erzeuger:innen für bis zu einem Drittel ihrer Ware weniger Geld bekommen – im schlimmsten Fall sogar überhaupt nichts. Ein wertschätzender Umgang sieht anders aus.
Forderungen gegen Lebensmittelverschwendung an die Politik
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich verpflichtet, die Lebensmittelverluste bis 2030 zu halbieren: „Bis 2030 die weltweite Nahrungsmittelverschwendung pro Kopf auf Einzelhandels-und Verbraucher:innenebene halbieren und die entlang der Produktions- und Lieferkette entstehenden Nahrungsmittelverluste einschließlich Nachernteverlusten verringern.“
Der WWF fordert eine branchen-spezifische verbindliche Reduktion von Lebensmittelabfällen. Die Politik muss bei Wirtschaftsbeteiligten darauf hinwirken, dass Standards für Obst und Gemüse, die auf ästhetischen Merkmalen basieren, keine Anwendung mehr finden.
Forderungen an die Unternehmen
Am Beispiel der Kartoffel ließ sich aufzeigen, dass die Überarbeitung von Qualitätsanforderungen für Agrarprodukte wesentlich zur Verminderung von Lebensmittelabfällen beziehungsweise einer größeren Wertschätzung von Lebensmitten beitragen könnte. Der Handel sollte mehr Verantwortung für die vorgelagerte Lieferkette übernehmen und gemeinsam mit allen Akteuren entlang der Lieferkette überlegen, wie sich eine höhere Wertschätzung und Wertschöpfung der Lebensmittel erreichen lässt. Beispiele zeigen, dass dies möglich ist.
Empfehlungen an die Verbraucher:innen
Lebensmittelabfälle zu Hause, im Restaurant und auf dem Weg vermeiden. Denn jedes Lebensmittel ist mit einem hohen Verbrauch an Energie, Wasser und anderen Rohstoffen verbunden sowie mit Emissionen von Schadstoffen und Klimagasen in die Umwelt.
Rein optische Kriterien dürften nicht länger dafür ausschlaggebend sein, ob ein wertvolles Nahrungsmittel verwendet oder eben verschwendet wird.
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