Alu-Verpackungen, Drähte und Schrauben, achtlos weggeworfene Getränkedosen, Glasflaschen, Deckel, Styropor-Klappboxen oder Take-away-Becher – all das landet in Frau Nguyens altem Müllkarren. Zerfetzte Plastiktüten, Folien oder Plastikscherben lässt sie liegen, sie sind zu klein und wertlos für sie. An den Wochenenden klappert Frau Nguyen oft auch private Haushalte ab. Die Menschen in der 215.000-Einwohner-Stadt Tan An im Mekong Delta in Vietnam sammeln ihre Wertstoffe zu Hause: Altpapier, Pappe, Metalle oder defekte Elektrogeräte. Für ein paar vietnamesische Dong kauft einer der vielen Müllsammler sie ihnen an der Haustür ab.
Es ist drückend heiß in Tan An, der Hauptstadt der Provinz Long An. Tropische 28 Grad Celsius schon vormittags um elf, das ist fast immer so im Mekong-Delta. Nguyen Thi Hong macht sich auf den Weg zur Arbeit. Jeden Tag um diese Zeit, sieben Tage die Woche, wenn es die Gesundheit zulässt, 365 Tage im Jahr. Frau Nguyen kennt es nicht anders. Sie lebt davon, Tag für Tag mit ihrem Handkarren durch die Straßen ihrer Stadt zu ziehen, auf der Suche nach Verwertbarem. Sie ist eine von tausenden Müllsammler:innen in Vietnam.
Fast alles auf der Straße lässt sich zu Geld machen
Knochenarbeit für die Schwächsten
Der „Nón Lá“, der traditionelle vietnamesische Kegelhut, wirft Schatten auf Frau Nguyen erschöpftes Gesicht. Er schützt sie vor der sengenden Sonne und vor Regen gleichermaßen. Sie ist vier Jahre zur Schule gegangen, hat zwei Kinder bekommen, dann war sie arbeitslos, erzählt sie.
Mit 34 Jahren hat Frau Nguyen angefangen, Müll zu sammeln. Zehn Jahre ist das jetzt her. Sie findet: „Es ist ein guter Job“, denn: „er lässt mir nachmittags noch Zeit für den Haushalt und für einen weiteren Job in der Nacht.“ Mehr als zwei Drittel der Müllsammler:innen in Vietnam sind Frauen, neun Prozent Kinder, so die Zahlen der „Global Alliance of Wastepickers“ – ein weltweites Netzwerk, in dem sich einige Müllsammler:innen organisiert haben.
Man sieht sie überall in den Städten: Mit Sträußen von bunt schimmernden PET-Flaschen an einem Stock über die Schultern gehängt, mit schweren, voll beladenen Müllkarren oder auf verrosteten Fahrrädern durchstreifen sie die Straßen.
Ohne sie würde Vietnam komplett im Müll versinken. Doch gegen den Plastikmüll in den Flüssen und Kanäle im Mekong-Delta können auch die Müllsammler:innen nichts machen. Spätestens mit der Regenzeit gelangt die Plastikflut in den Golf von Thailand und das Südchinesische Meer.
Was bleibt ist ein Hungerlohn
An guten Tagen ist Frau Nguyens Müllkarren nach drei Stunden voll. Den Müll bringt sie am Ende ihrer Tour zur zentralen Sammelstelle. Für Kupferreste bekommt sie am meisten Geld, etwas weniger für Aluminium und Eisen. Dann folgen Plastik und Papier. Um die 50.000 vietnamesische Dong verdient sie am Tag – knapp zwei Euro. „Das“, sagt Frau Nguyen, „reicht nicht zum Leben.“ Ihre Tochter ist Puppenmacherin, ihr Sohn arbeitet als Straßenkehrer. „Ihm helfe ich nachts beim Straßenfegen“, erzählt sie. So kommt ein wenig mehr Geld in die Kasse.
Am Straßenrand, im Fluss, im Meer: Plastikmüll ist hier überall
„Allein in der Mekong-Region fallen täglich 4.000 Tonnen Müll an“, sagt Nguyen Xuan Hoang von der Umweltbehörde in Can Tho, der größten Stadt im Mekong-Delta. Die Covid-19-Krise hat diese Menge noch steigen lassen. Etwa ein bis zwei Prozent davon, schätzt er, landen im Meer. Die Wirtschaft wächst und die Zahl vor allem der einheimischen Tourist:innen wächst rapide. Lebensmittel, die früher in Bananenblätter gewickelt wurden, sind heute meist in Folie verpackt. Take-Away-Essensboxen und Plastiktüten sind auf einmal überall. Und kaum Eine:r ist sich bewusst, was die dadurch entstehenden gigantischen Müllmassen in den Ozeanen anrichten.
Es fehlt eigentlich an allem
Das rudimentäre öffentliche Abfallmanagement des Landes kann nicht Schritt halten mit der rasanten Konsum-Entwicklung in Vietnam. Was hilft? „Wir brauchen ein umfassendes Abfallwirtschaftskonzept”, sagt Nguyen Xuan Hoang. Also: Weniger Plastiktüten und Einweggeschirr, konsequente Mülltrennung zu Hause, funktionierende Müllabfuhr, gutes Recycling und moderne Deponien, Kompostierungs- und Verbrennungsanlagen.
Pilotprojekte, wie das des WWF in der Modellregion Long An im Mekong-Delta, sind mehr als ein Hoffnungsschimmer für den Mann im Umweltamt: „Sie sind ganz entscheidend für uns.“ Doch bis zu einem funktionierenden Abfallmanagement, das eines Tages auch abgelegene Dörfer und Inseln erreicht, ist es ein sehr langer Weg. “Vietnam steht erst ganz am Anfang”, sagt Bernhard Bauske, Plastikmüllexperte beim WWF.
Und die vielen tausend Müllsammler im Land müssen mit eingebunden werden: “Einfach das deutsche Sammel- und Recyclingsystem auf Vietnam zu übertragen, ist nicht möglich. Es besteht die Gefahr, der schwächsten Bevölkerungsgruppe eine Einkommensgrundlage wegzunehmen. Darum müssen diese Menschen sinnvoll und sozial verträglich in die Entwicklung der Abfallwirtschaft mit eingebunden werden.”
Denn es sind es die Ärmsten der Armen, die jeden Tag für einen kärglichen Lohn den Müll anderer einsammeln und so den Plastikmüllkollaps der Meere zumindest ein wenig eindämmen. Es sind Menschen wie Frau Nguyen.
- Projekt Phu Quoc
- Projekt Long An