Es sind Millionen von Schildkröten, die jedes Jahr im Amazonas schlüpfen. Sie sind integraler Bestandteil des Ökosystems und tief verwurzelt in der Kultur der indigenen Bevölkerung. Doch steigende Wasserpegel lassen viele Schildkröten ertrinken, noch bevor sie geschlüpft sind.
Inmitten von zehntausenden Quadratkilometern unberührten Regenwaldes und auf dem Landweg kaum zu erreichen, liegt im Osten Boliviens der kleine Ort Versalles. Nur etwa 27 Häuser stehen hier am linken Ufer des Iténez-Flusses, der sich an der Grenze zu Brasilien entlang schlängelt. Die Mehrheit der Bevölkerung gehört dem indigenen Volk der Itonama an. An den Stränden rund um ihre Gemeinde befindet sich eine der größten Kinderstuben von Flussschildkröten im Amazonasgebiet.
Sogar in alten Mythen und Legenden tauchen Figuren auf, die von der Arrauschildkröte – der größten aller Süßwasserschildkröten - inspiriert sind. Darunter die Flussgöttin Tatijana, die des nachts böse Menschen verschwinden lässt. Die Menschen in Versalles fühlen sich reich beschenkt angesichts der für sie so bedeutenden Schildkröten. Doch plötzlich mussten sie fürchten, ihre Flussgöttin selbstverschuldet für immer zu verlieren.
Das Verschwinden der Schildkröten
Mit steigender Nachfrage nach Schildkrötenpanzern wilderten Gemeindemitglieder immer mehr und immer kleinere der Tiere, ohne sich der Folgen bewusst zu sein. Als die Bestände gefährlich einbrachen, suchten sie Hilfe und begannen gemeinsam mit einem Nachbardorf, die geschlüpften Schildkröten zu zählen, um lebensfähige Populationen zu sichern. Mit Unterstützung des WWF bewirtschaften die Gemeinden am Flussufer inzwischen außerdem Wälder und Strände nachhaltiger, um ein Gleichgewicht zwischen der Nutzung natürlicher Ressourcen und deren Erhaltung für die Zukunft zu schaffen.
Neue Bedrohung
Seit mittlerweile fünfzehn Jahren arbeiten die Bewohner:innen von Versalles mit dem WWF daran, die Populationen von zwei Arten von Süßwasserschildkröten wiederherzustellen: der scheuen Terekay-Schienenschildkröte und der Arrauschildkröte, die in Bolivien eines ihrer wichtigsten Verbreitungsgebiete hat. Beide Arten wurden auf nationaler Ebene als "gefährdet" und "stark gefährdet" eingestuft.
Die Schutzbemühungen am Iténez zeigen Erfolg. Die Schildkrötenbestände konnten sich erholen. Doch sie sind einer neuen Bedrohung ausgesetzt: Schildkröteneier verfaulen im feuchten Sand und Schildkrötenbabys ertrinken, bevor sie bereit sind, ihr Nest zu verlassen. Denn einhergehend mit dem Bau der brasilianischen Staudämme Jirau und Santo Antonio am Madeira-Fluss ist der Wasserpegel des Rio Iténez stark angestiegen.
Der Fluss und seine Schildkröten
Rettung vor dem Ertrinken
Um ihre Eier abzulegen, kehren Schildkrötenweibchen an den gleichen Strand zurück, an dem sie selbst geboren wurden. Am Rio Iténez beginnt der Zyklus im August, wenn die Mutterschildkröten die Strände erreichen und endet in der Regel im Dezember oder Januar, wenn die geschlüpften Jungtiere sich auf den Weg in den Fluss machen. Täglich graben Freiwillige in dieser Zeit so viele Nester wie möglich aus, bevor der Fluss sie überspült. Die geretteten Schildkröten werden sorgfältig gezählt. Nicht nur, um ihre Bestandsentwicklung zu überwachen. Die indigene Gemeinschaft hofft mit den Zahlen auch Staudammbetreiber davon zu überzeugen, dass sie etwas ändern müssen.
Die große Bedeutung der Arbeit in Versalles
Im ersten Jahr des Projektes 2007 schlüpften 120.000 Schildkröten an den Stränden rund um Versalles. Seit 2011 werden jedes Jahr mehr als 2,5 Millionen Jungtiere gezählt. Das Projekt erhält nicht nur zwei vom Aussterben bedrohte Arten von Süßwasserschildkröten. Es stärkt die kulturellen und ökologischen Werte der indigenen Gemeinden und leistet seinen Beitrag zum Schutz des global bedeutenden Amazonasgebietes.
Die Gemeinde Versalles und das indigene Territorium Itonama überschneiden sich mit dem drittgrößten Schutzgebiet Boliviens: Dem Iténez Nationalpark, dessen 1,3 Millionen Hektar intakten Tropenwaldes sich bis zum Guaporé Schutzgebiet auf brasilianischer Seite erstrecken. Ein Gebiet, das auch dank des Einsatzes seiner Bewohner:innen noch reich an Biotopen und biologischer Vielfalt ist.
Wie geht es nun weiter?
Trotz des sichtbaren Erfolges müssen die Ergebnisse des Schutzprojektes am Rio Iténez weiter ausgewertet werden. In den nächsten zwei Jahren wird der WWF deshalb prüfen, wie sich der Schildkrötenschutz auf Populationen und Ökosystem auswirkt und wie es um den Gesundheitszustand der Flussschildkröten bestellt ist.
Auch die Lebensbedingungen der beteiligten Gemeindemitglieder sollen weiter verbessert und Material und Feldausrüstung bereitgestellt werden. Letztere wurden seit 2007 nicht mehr erneuert. Benötigt werden unter anderem Campingausrüstung, Schlafsäcke, Taschenlampen, Schilder, Netze, Körbe, Benzin und Verpflegung. Zusätzlich sollen die Öffentlichkeit und einzelne Interessengruppen auf lokaler wie internationaler Ebene informiert und sensibilisiert werden. Denn der Schutz der Schildkröten ist sowohl für die Ökosysteme des Amazonasgebietes als auch für die Flussufergemeinden und ihre Kultur von großer Bedeutung.
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