Wie verändert sich das Leben in einem Korallenriff, wenn es von Plastiktüten bedeckt wird? Was bedeutet es für die Bewohner von Seegraswiesen, wenn sich Mikroplastik auf den Blättern ablagert? Und was passiert, wenn Arten auf Plastikteilen plötzlich in ganz neue Meeresregionen getragen werden?

Unechte Karettschildkröte gefangen im Netz © naturepl.com / Jordi Chias / WWF
Unechte Karettschildkröte gefangen im Netz © naturepl.com / Jordi Chias / WWF

Wir kennen inzwischen die schrecklichen Fotos von toten Walen mit Mägen voller Plastikteile oder von Schildkröten mit Strohhalmen in der Nase. Weniger sichtbar ist jedoch, wie Plastikmüll nicht nur einzelne Tierarten, sondern auch ganze Ökosysteme im Meer beeinflussen kann.

Eine vom WWF in Auftrag gegebene Studie des Alfred-Wegener-Instituts 2022 liefert die bis heute umfassendste Darstellung des Ausmaßes der Plastikverschmutzung in den Meeren: Auswirkungen von Plastikmüll auf einzelne Arten, Populationen und ganze Ökosysteme im Meer.

Denn jede Tier- und Pflanzenart steht in Beziehung zu ihrer unmittelbaren Umwelt, ist von ihr abhängig und bildet mit ihr und anderen Arten ein aufeinander abgestimmtes System mit komplexen Strukturen. Schon kleinste Veränderungen können so ein System durcheinanderbringen oder ganz zerstören. Verschwindet nur eine einzige Tierart, kann das ganze Ökosystem davon beeinträchtigt werden.

Fische schwimmen auf Plastikflößen in neue Regionen

Toter gestrandeter Fisch umgeben von Plastikmüll © GettyImages
Toter gestrandeter Fisch umgeben von Plastikmüll © GettyImages

Plastikabfälle werden nicht nur zur tödlichen Falle für Abertausende Meerestiere jährlich. Plastikteile im Meer können noch ganz andere, viel unbekanntere Folgen haben. So reisen Tiere, Pflanzen oder auch Krankheitserreger als "Beifahrer" auf Plastikteilen in Regionen, wo sie als invasive Arten großen Schaden anrichten können. Auf solchen Plastikflößen bildet sich in kurzer Zeit ein dünner Film aus Algen und Mikroorganismen, bis schließlich ganz neue schwimmende Ökosysteme entstehen.

Mit Plastiktrümmern, die 2011 nach dem Tsunami in Japan ins Meer getrieben wurden, schwammen Fische aus zwei untersuchten Gruppen sogar rund 8.000 Kilometer bis zur pazifischen Nordwestküste der USA, wo sie normalerweise gar nicht vorkommen.

Korallenriffe von Plastikmüll erstickt

Plastiktüte auf Koralle © Steve De Neef / National Geographic Creative
Plastiktüte auf Koralle © Steve De Neef / National Geographic Creative

Korallenriffe gehören zu den bekanntesten Ökosystemen der Ozeane und sind besonders bei Tauchtourist:innen beliebt. Diese äußerst empfindlichen und komplexen Lebensräume werden wegen ihres Artenreichtums auch die Regenwälder der Meere genannt. Von Fischernetzen umfangen und von Plastikfolien bedeckt erhalten sie nicht genug Licht und Nährstoffe.

Schon jedes dritte Korallenriff in der asiatisch-pazifischen Region ist mit Makroplastikteilen belastet. Ganze Riffe ersticken hier unter dem Plastikmüll und sind dadurch einem höheren Krankheitsrisiko ausgesetzt.

Tiefseeböden verändern sich dramatisch

Auch der Meeresboden der Tiefsee bildet ein eigenes Ökosystem. Der ursprünglich aus weichen und weitgehend homogenen Sedimenten bestehende Boden bekommt durch abgesunkene Plastikteile eine ganz andere Struktur. Dort können sich neue Lebensgemeinschaften ansiedeln, die ursprünglich dort lebende Arten verdrängen könnten.

Wie reagieren die hochspezialisierten Meerestiere in der Tiefsee, wenn auf größeren Plastikteilen auf dem Meeresboden plötzlich vorher unübliche Pflanzen wachsen? Das ist noch längst nicht erforscht.

Seegraswiesen zu Großteilen von Mikroplastik bedeckt

Dugong frisst Seegras © Philipp Kastinger / WWF
Dugong frisst Seegras © Philipp Kastinger / WWF

Seegraswiesen schützen Küsten, reinigen das Wasser und speichern Kohlenstoff. Sie sind damit für den Menschen wichtige Ökosystemdienstleister. Zwischen den langen Halmen der Seegraswiesen finden Seekühe und Meeresschildkröten Schutz und Nahrung.

Seegraswiesen filtern jedoch auch wie ein Kamm Plastikpartikel heraus, die an den Halmen der Gräser hängenbleiben. In einer Untersuchung auf den schottischen Orkneyinseln wurde auf 94 Prozent aller Halme einer untersuchten Seegraswiese Mikroplastik gefunden. Eine Katastrophe für alle dort lebenden Pflanzenfresser.

Marine Ökosysteme im Dauerstress

Korallenbleiche © Jürgen Freund / WWF
Korallenbleiche © Jürgen Freund / WWF

Leider fehlen immer noch Langzeitstudien, die nicht nur einzelne Effekte untersuchen, sondern ein ganzheitliches Bild der Auswirkungen von Plastikmüll auf marine Ökosysteme zeichnen.

Die zahlreichen in der aktuellen Studie analysierten Forschungsprojekte lassen trotzdem keinen Zweifel: Nicht eine einzelne, sondern die Vielfalt der Belastungen summiert sich für die Ökosysteme der Meere zur existenziellen Bedrohung.

Ein gesundes Korallenriff, das zum Teil von Plastiktüten bedeckt ist, kann den Verlust vielleicht an anderer Stelle ausgleichen. Solche gesunden Riffe gibt es jedoch kaum noch. Korallen leiden weltweit erheblich unter der Erwärmung der Meere durch den Klimawandel, an der Zunahme von Stürmen, an Übersäuerung und Massentourismus. Das Phänomen der Korallenbleiche breitet sich mehr und mehr aus. Forscher:innen betonen, dass die Summe all dieser Stressfaktoren ein Ökosystem so stark schwächen kann, dass es die Folgen nicht mehr kompensieren kann und schließlich darunter zusammenbricht.

Besonders beunruhigend ist aus Sicht der Forscher:innen auch die Belastung von Zoo- und Phytoplankton mit Mikroplastik, denn sie sind die Grundlage für fast alles Leben im Meer. Mikroplastik wird von diesen kleinsten Krebsen, Würmern, Algen und andere Organismen aufgenommen oder heftet sich an sie und belastet so die Basis aller Nahrungsversorgung im Ozean.

Am Ende der Nahrungskette steht auch der Mensch

Lachsfilet mit Gemüse © Getty Images
Lachsfilet mit Gemüse © Getty Images

Vom angriffslustigen Barrakuda bis zum friedlichen Karpfen: Dass Fische Plastik aufnehmen, ist gut dokumentiert. 688 Fischarten wurden in 225 Studien untersucht. Das Ergebnis ist dramatisch: Drei von vier Fischen hatten Plastik im Verdauungstrakt!

Nicht nur unappetitlich, sondern auch bedenklich wird es, wenn Kabeljau, Hering oder Sardine am Ende auf unserem Teller landen. Bei der Untersuchung von Sardinenkonserven wurde in vier von 20 Marken Mikroplastik gefunden. In einer Studie mit Miesmuscheln fanden Forscher:innen Kunststoff in jeder zweiten Muschel.

Auch der Mensch nimmt über die Nahrung oder die Atemluft Mikroplastik auf. Die aufgenommenen Mengen sind von den Lebensgewohnheiten der Menschen abhängig und können daher stark schwanken. Welche Auswirkungen Mikroplastik und seine chemischen Zusatzstoffe genau auf die menschliche Gesundheit haben, ist noch völlig unklar.

Das Meer als Endlager für Plastikmüll

Plastik- und Müllverschmutzung im Meer © Caroline Power
Plastik- und Müllverschmutzung im Meer © Caroline Power

Die neue WWF-Studie zeigt auch: an einigen Stellen in den Ozeanen, wie zum Beispiel im Mittelmeer oder im Südchinesischem Meer, werden bereits heute ökologisch bedenkliche Konzentrationen von Mikroplastik im Meer erreicht und überschritten. Wenn diese Entwicklung so weitergeht, kann in einem Worstcase-Szenario im Jahr 2100 eine Fläche von mehr als der doppelten Fläche Grönlands von einer Überschreitung dieser Schwellenwerte betroffen sein.

Wir sehen derzeit nur die Spitze eines Eisbergs - und was wir sehen, ist bedenklich. Plastik verschmutzt die marinen Ökosysteme irreparabel. Die Folgen für die darin lebenden Arten werden erst nach und nach sichtbar.

Vom Plastikproblem zur Plastikkrise

Viele Forscher:innen setzen die Plastikkrise inzwischen mit anderen globalen Umweltkrisen wie der Klimakrise gleich, die nur durch drastische Maßnahmen abgewehrt werden kann. Auch optimistische Schätzungen gehen davon aus, dass sich mindestens bis 2060 weiterhin enorme Mengen Plastik im Meer ansammeln werden, selbst dann, wenn in Zukunft weniger Plastik produziert und so auch weniger Plastikmüll entstehen sollte.

Besonders in Kombination mit anderen Stressfaktoren wie der Erderhitzung, Stürmen, Überfischung, Übertourismus und Übersäuerung der Ozeane müssen wir davon ausgehen, dass die Belastung durch Mikro- oder Makroplastik ganze Ökosysteme umstrukturieren und auch ganze Populationen seltener Arten bedrohen kann. Ohne drastische, schnelle und global vernetzte Maßnahmen gegen die Plastikflut ist kein Ende des Sterbens im Meer absehbar.

Unterstützen Sie den WWF im Kampf gegen die Plastikflut

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