Die neue WWF-Studie "Living with Tigers" untersucht, wie ein erfolgreiches Zusammenleben für beide Seiten gelingen kann. Fast 47 Millionen Menschen leben in Tigerterritorien, also in Gebieten, in denen Tiger verbreitet sind. Weitere etwa 85 Millionen siedeln im Umkreis von zehn Kilometern um diese Gebiete. Wirksamer Tigerschutz lässt die Großkatzen heute auch Reviere zurückerobern, in denen sie Jahrzehnte nicht anzutreffen waren. Gleichzeitig wächst die Bevölkerung und dringt dabei in Lebensräume und Rückzugsorte für Tiger und andere bedrohte Tierarten vor.
2022 ist das Jahr des Tigers: Vor zwölf Jahren haben sich die letzten 13 Tigerstaaten zum Ziel gesetzt, die Zahl der wild lebenden Tiger bis 2022 zu verdoppeln. Zum Teil mit beachtlichem Erfolg. Für die Menschen in den Verbreitungsgebieten bedeutet das oftmals eine Herausforderung, die Mensch und Tiger das Leben kosten kann.
Gefahr für Mensch und Tiger
320 Menschen wurden in Indien zwischen 2014 und 2020 von Tigern getötet und auch in Verbreitungsländern wie Nepal, Bangladesch oder Indonesien führen Tigerangriffe regelmäßig zum Tod von Menschen. Dazu kommen hohe Zahlen gerissener Nutztiere, welche die betroffenen Haushalte häufig an den Rand ihrer Existenz bringen.
Das Überleben von Tigern in freier Wildbahn hängt jedoch in hohem Maße davon ab, inwieweit die Menschen vor Ort ihre Anwesenheit tolerieren. Vergeltungstötungen, insbesondere Vergiftungen sind nur schwer zu verhindern und Verantwortliche hinterher kaum zu ermitteln.
Müssen Tiger oder Menschen umziehen?
In der Vergangenheit wurden weltweit Hunderttausende Menschen aus Schutzgebieten von der Regierung zwangsumgesiedelt. Ein Ansatz, der berechtigterweise auf große Kritik stößt, auch aus ökologischer Sicht. Die Umsiedlung von Menschen aus Gebieten mit Tigern genau wie von Tigern aus Gebieten mit Menschen ist der falsche Weg.
Eine friedlichere Koexistenz zwischen Tigern und Menschen ist möglich und muss gefördert werden, um Großkatzen wie den Tiger auf unserer Erde zu erhalten. Welche Möglichkeiten und gemeinsamen Wege es dabei gibt, zeigt die neue Studie der Tigers Alive Initiative des WWF.
Indigene in Malaysia schützen Wald und Tiger
Riesige, abgelegene Wälder prägen eine der wichtigsten Tigerlandschaften Südostasiens: Den Nationalpark Belum-Temengor im Norden Malaysias an der Grenze zu Thailand. Um erschreckende 50 Prozent ist die Tigerzahl hier zwischen 2009 und 2018 eingebrochen. Als zusätzliche Kräfte im Kampf gegen Wilderei arbeiten Regierung und Nationalparkverwaltung seitdem erfolgreich mit „Orang Asli“ zusammen.
Orang Asli (“ursprüngliches Volk”) bezeichnet die verschiedenen indigenen Völker Malaysias. Sie sind für ihre hochentwickelten Überlebensfähigkeiten im Wald bekannt. "Niemand kümmert sich um das Haus oder den Garten eines Anderen. Aber als indigene Gemeinschaft kümmern sie sich um ihren eigenen Wald und verteidigen ihn“, so Mohamed Shah Redza Hussein, Leiter der Nationalparkverwaltung.
Mehr Mitspracherecht für indigene und lokale Gemeinschaften
Indigene und kommunale Schutzgebiete bieten ein beträchtliches Potenzial zur Erhaltung der Tiger. Doch noch immer haben die Stimmen der indigenen Völker und anderer lokaler Gemeinschaften, die seit Jahrhunderten mit den Tigern leben, zu wenig Gewicht. Wenn es uns gelingen soll, den Bestand an Tigern weiter zu erhöhen, brauchen wir Gesetze, Politik, Strategien und langfristige Partnerschaften, die indigenen und lokalen Gemeinschaften eine klare Beteiligung sichern. Ihre Rechte müssen geachtet, ihre Werte, Überzeugungen und Bedürfnisse verstanden und berücksichtigt werden. Das gilt für alle Menschen, die in Tigerlandschaften leben und in Zukunft noch mehr werden leben müssen.
Wenn Tiger und Menschen dicht an dicht wohnen
Eine wachsende Bevölkerung und mögliche veränderte Landnutzung in Folge der Klimakrise treffen auf die größte Katze der Erde, die viel Raum braucht und deren Bestände wieder wachsen. Mehr geeignete Lebensräume für Tiger müssen auch über die Grenzen von Schutzgebieten hinaus geschaffen werden. Der Wettbewerb um Land und Ressourcen zwischen Tigern und Menschen aber könnte zu einem steigenden Konfliktpotenzial führen.
Das Tigerschutzgebiet, das weltweit am dichtesten von Menschen umgeben ist, ist das indische Reservat Pilibhit. Die Grenzen zwischen dem Reservat und den Dörfern sind fließend. Einstige Wälder wurden auf einen schmalen Streifen geschrumpft, umgeben von ausgedehnten Zuckerrohr-, Weizen- und Reisfeldern, die den Tigern als Lebensraum dienen. Ein Brennpunkt für Mensch-Tiger-Konflikte, wie sie in der Vergangenheit zur regionalen Ausrottung von Tigern auf den indonesischen Inseln Java und Bali, sowie am Kaspischen Meer und am Aralsee führten.
Nicht so in Pilibhit: Hier konnte sich die Tigerpopulation in den letzten Jahren verdoppeln. Dass eine friedliche Koexistenz von Tigern und Menschen gelingen kann, zeigen derartige Zahlen aus Südasien – einer der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt. Gleichzeitig erholen sich hier die Tigerbestände bisher am besten.
Mensch-Tiger-Konflikte verhindern und entstandene Not lindern
Viele Konflikte zwischen Menschen und Tigern lassen sich im Vorfeld verhindern. Doch dies ist weder einfach noch billig. Verschiedene Problemlagen müssen verstanden werden: Wo liegen die Orte mit dem höchsten Risiko? Bedürfen Menschen oder Nutzvieh Schutz? Wie real ist die Gefahr – und wie lässt sich ihr begegnen? Technische Mittel wie Frühwarnsysteme oder bessere Viehzäune können genauso notwendig sein wie eine integrative Aufklärungsarbeit der Bevölkerung, die zu wichtigen Verhaltensänderungen führt.
Kommt es zu einer Konfliktsituation, ist schnelles Handeln gefragt. Lokale Anti-Konflikt-Teams können Gefahrensituationen entschärfen und schnelle Hilfe leisten. Wichtig sind aber auch rechtliche und politische Optionen wie Beschwerdemechanismen oder Entschädigungsregelungen.
Von den Tigern profitieren
Es sind in der Regel die ärmsten Haushalte, die durch Mensch-Wildtier-Konflikte am stärksten bedroht sind. Sie dürfen nicht auf Kosten beispielsweise für sichere Zäune oder gar von gerissenem Nutzvieh sitzen bleiben, sondern sollen im Gegenteil von der Anwesenheit des Tigers profitieren können. Denn eine Koexistenz, die sowohl den Menschen als auch den Tieren Vorteile bringt, wenn diese sich eine Landschaft teilen, ist ein wichtiger Schritt zur Sicherung der Zukunft der Tiger.
Derartige Vorteile können in staatlichen Investitionen bestehen, in Zahlungen für Ökosystemdienstleistungen, in rechtlicher Autonomie für die lokale Bevölkerung – und in Alternativen für den Lebensunterhalt, welche direkt mit dem Tiger in Verbindung stehen. In vielen Tigerlandschaften bieten Zimmervermietungen für den Ökotourismus alternative Einkommen, die einerseits das Verlustrisiko im Falle von Nutztierrissen oder Ernteausfällen streuen, andererseits die Ausbeutung von Wäldern und Natur mindern und nicht zuletzt der Anwesenheit der Tiger ganz neue Bedeutung beimessen.
Welt im Wandel
Was heute gilt, kann morgen schon ganz anders sein. Nicht nur die Klimakrise schafft neue Herausforderungen. Auch die Gemeinschaften, die mit Tigern leben, sind nicht statisch. Ihre Ansichten und Ambitionen ändern sich vielerorts. Die Gegebenheiten müssen stetig neu geprüft und Maßnahmen angepasst werden. Nachhaltige Finanzierungsmechanismen müssen entwickelt und der Schutz der Tiger in die Landnutzungsplanung einbezogen werden.
Die Koexistenz und das Wohlergehen der Menschen, die mit Tigern leben, müssen von den Regierungen als oberste Priorität für die Zukunft verankert werden.
Jetzt ist der perfekte Zeitpunkt, um neu zu überdenken, wie indigene und lokale Gemeinschaften zum Schutz von Tigern beitragen – und wie Tiger einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung lokaler Ambitionen und globaler nachhaltiger Entwicklungsziele leisten können. Denn die meisten Tigerverbreitungsgebiete weisen eine hohe biologische Vielfalt oder ungewöhnlich intakte Ökosysteme auf. Und was den Tigern dient, nutzt auch der Natur und weiteren Arten um sie herum.
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