Auf Natur bauen: Wie Schutzgebiete nachhaltige Entwicklung voranbringen
Stand: 17.06.2021
Die Welt steht vor immer größeren globalen Herausforderungen. Eine wegweisende, handlungsorientierte Studie zeigt nun, wie Naturschutzgebiete dazu beitragen können, diese Herausforderungen zu meistern. Und sie fordert Regierungen, Unternehmen und Gemeinden auf, flächenbezogene Naturschutzmaßnahmen in ihre Entwicklungspläne zu integrieren, um die Ziele der Agenda 2030 umzusetzen. Drei WWF-Projekte zeigen heute schon, wie das geht.
„Transforming our world“ – unter diesem Titel veröffentlichten die Vereinten Nationen im September 2015 die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Kern des UN-Beschlusses: 17 globale nachhaltige Entwicklungsziele, auch bekannt als Sustainable Development Goals, kurz SDGs.
Armut und Hunger weltweit beenden, Ungleichheiten verringern, Frieden schaffen, nachhaltige Entwicklung fördern, Ökosysteme zu Land und zu Wasser wiederherstellen und schützen – das sind nur ein paar dieser 17 Ziele, die bis zum Jahr 2030 umgesetzt werden sollen. Das Besondere daran: Die 17 Ziele decken nicht nur die Bereiche Soziales und Wirtschaft, sondern auch den Bereich Umwelt ab. Damit macht der UN-Beschluss unmissverständlich klar, dass der Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen unabdingbar für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung und den Kampf gegen Armut und Hunger ist.
Alle 193 Mitgliedsstaaten haben die Agenda 2030 unterzeichnet und sich damit verpflichtet, die Ziele im eigenen Land umzusetzen.
Schlüsselrolle der Schutzgebiete
Aber wie sollen diese äußerst ambitionierten Ziele in so kurzer Zeit umgesetzt werden?
Eine Schlüsselrolle bei der Verwirklichung der SDGs können Schutzgebiete spielen – das zeigt die Studie „Building on Nature. Area-based conservation as a key tool for deliverings SDGs“. Die Studie ist ein Gemeinschaftsprojekt des Institute for European Environmental Policy (IEEP), der Weltkommission der Schutzgebiete (WCPA), The Nature Conservancy (TNC), der Weltbank, des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP), der Wildlife Conservation Society (WSC) und des WWF.
Ein Schutzgebiet ist laut Definition der Weltnaturschutzunion (IUCN) „ein geografisch eindeutig definiertes Gebiet, das durch gesetzliche oder andere effektive Maßnahmen verwaltet wird und dem langfristigen Schutz und dem Erhalt der biologischen Vielfalt und den damit verbundenen natürlichen und kulturellen Ressourcen gewidmet ist.“ Die Ausweisung und Verwaltung von Schutzgebieten nennt man auch flächenbezogene Naturschutzmaßnahme.
Auch Gebiete, deren primäre Aufgabe nicht der Erhalt der biologischen Vielfalt ist, können einen wichtigen Beitrag zur Biodiversität leisten – beispielweise Korridore zwischen Schutzgebieten oder ehemalige militärische Sperrgebiete. In diesen Fällen spricht man von „weiteren effektiven flächenbezogenen Naturschutzmaßnahmen“, den sogenannten OECMs (englisch „other effective area-based conservation measures“).
Ökosysteme bewahren, UN-Ziele umsetzen
Intakte Ökosysteme bieten nicht nur Tieren und Pflanzen Lebensraum und Nahrung, auch für die Lebensqualität und die Gesundheit der Menschen sind sie elementar. Sie sorgen für den Erhalt der Biodiversität, schützen das Klima und tragen zur nachhaltigen Wasserversorgung und zur Ernährungssicherung bei. Eine Möglichkeit, diese sogenannten Ökosystemdienstleistungen zu bewahren, sind Schutzgebiete.
Werden flächenbezogene Naturschutzmaßnahmen effektiv eingesetzt, tragen sie also nicht nur zum Erreichen der UN-Ziele bei, die sich explizit auf den Schutz der Natur beziehen. Ihre Reichweite ist viel größer: Indem sie die Ökosystemdienstleistungen bewahren, unterstützen Schutzgebiete beispielweise auch die Armutsbekämpfung, sie reduzieren Ungleichheiten und befördern die Entwicklung und Wiederherstellung friedlicher, rechtstaatlicher und inklusiver Gesellschaften.
Wie das funktioniert, zeigt die Studie in 30 Projektbeispielen. Darüber hinaus stellt die Studie konkrete Leitlinien zur Verfügung, wie Regierungen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft Schutzgebiete in ihre SDG-Strategie integrieren können. Drei dieser inklusiven Naturschutzprojekte stellen wir Ihnen hier vor.
Dzanga-Sangha, Zentralafrikanische Republik: Wie integratives Schutzgebietsmanagement Ungleichheiten verringert
Im Südwesten der Zentralafrikanischen Republik erstreckt sich über 4.500 Quadratkilometer das Dzanga-Sangha-Schutzgebiet, das zu den wichtigsten Ökoregionen der Welt zählt.
Es ist Heimat zahlreicher seltener und bedrohter Arten wie dem Afrikanischen Waldelefanten, dem Westlichen Flachlandgorilla, verschiedene Antilopenarten und vielen mehr. Wegen ihrer unersetzbaren Bedeutung für die Biodiversität wurde die Region 2012 zum UNESCO-Weltnaturerbe erklärt.
Die Herausforderung
Trotz Schutzstatus ist Dzanga-Sangha von Raubbau und Wilderei bedroht. Professionelle Wilderer:innen haben es vor allem auf das Elfenbein der Waldelefanten abgesehen. Die Menschen vor Ort jagen oft aus der Not heraus – um die Tiere selbst zu essen oder für ihren Lebensunterhalt als sogenanntes Buschfleisch zu verkaufen.
Die Stärkung der indigenen Bevölkerung war zwar bereits bei der Gründung des Schutzgebiets Anfang der 1990er-Jahre erklärtes Ziel, wegen politischer Instabilität und mangelnder Vertretung ihrer Belange ist die indigene Bevölkerung aber noch immer von massiver Ausgrenzung und Diskriminierung betroffen.
Die Folge: Armut, Ernährungsunsicherheit und Krankheit – ein Teufelskreis, der den Druck auf die Ressourcen des Waldes verstärkt.
Der Ansatz
Der Wald mit seinen zahlreichen Ökosystemen und seiner unvergleichbaren Artenvielfalt kann nur geschützt werden, wenn parallel die Ungleichbehandlung der indigenen Bevölkerung bekämpft wird.
Wie kann das gelingen? Indem etablierte Naturschutzmaßnahmen mit nachhaltiger Entwicklung verknüpft werden. In Dzanga-Sangha baut der WWF gemeinsam mit den regionalen Gemeinden und seinen nationalen und internationalen Partnerorganisationen dabei auf diese fünf Säulen:
alternative Einkommensquellen beispielweise im Ökotourismus
indigene Kultur, die traditionelles Wissen weitergibt
Menschenrechte und Rechte der regionalen Bevölkerung, sich aktiv am Schutz ihres Waldes zu beteiligen
Bildung, um Armut zu bekämpfen
Gesundheitsvorsorge
Die Schlüsselerkenntnisse
Schutzgebiete wie Dzanga-Sangha zeigen, wie erfolgreich integrativer Naturschutz sein kann, bei dem lokale Gemeinden zentral in die Konzeption und die Umsetzung der Maßnahmen eingebunden sind.
Die Beteiligung der lokalen Gemeinden ist der entscheidende Faktor für nachhaltige Schutzprojekte, von denen Mensch und Natur gleichermaßen profitieren. Damit trägt Dzanga-Sangha nicht nur zu SDG 15 bei, das den Schutz, die Wiederherstellung und die nachhaltige Nutzung von Ökosystemen umfasst. Dzanga-Sangha hilft beispielsweise auch, die SDGs zu erreichen, die sich Armutsbekämpfung, Reduzierung von Ungleichheiten und Zugang zu Bildung auf die Fahnen geschrieben haben (SDG 5 und 10).
Terai Arc, Nepal: Wie Waldschutz die Lebensumstände von Frauen verbessert
Die Wälder und Grasländer des Terai Arc beherbergen so ikonische Tierarten wie denAsiatischen Elefanten und dasPanzernashorn; und nirgendwo sonst auf der Erde gibt es mehrTiger als in dieser Region, die sich entlang der Grenze zwischen Nepal und Nordwest-Indien auf 49.600 Quadratkilometern erstreckt.
Rund die Hälfte der Terai-Arc-Landschaft befindet sich in Nepal, dort leben ungefähr 7,5 Millionen Menschen. Ihre Haupteinkommensquellen sind Landwirtschaft, Tierhaltung, Angestelltenerwerbstätigkeit und Geldüberweisungen von Angehörigen, die im Ausland arbeiten.
Für die Haushalte in den ländlichen Gegenden dienen die Wälder als Sicherheitsnetz; vor allem arme Familien sind auf deren natürlichen Ressourcen angewiesen.
Die Herausforderung
22,3 Prozent der Bevölkerung Nepals leiden in mehrerlei Hinsicht unter Armut – in Bildung, Gesundheit und Lebensstandard.
Besonders betroffen sind Frauen; zu diesem Ergebnis kommt der Bericht des Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index, HDI) aus dem Jahr 2019. Während Männer auf der Suche nach Arbeit in Städte und andere Länder abwandern, sind Frauen für die Versorgung ihrer Familien zuständig. Dabei sind sie in hohem Maße von den Ressourcen des Waldes abhängig, sei es in Form von Brennholz, wildwachsender Nahrung, Heilpflanzen, Viehfutter oder Wasser.
Das Sammeln von Brennholz und das Wasserholen sind extrem zeitaufwändig und mühsam, zusätzlich sind die Frauen dabei dem Risiko von Mensch-Tier-Konflikten und geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt.
Weil sie in Innenräumen über Holzfeuer kochen, leiden viele Frauen und ihre Kleinkinder an Atemwegserkrankungen. Die intensive Holznutzung bedroht und schädigt darüber hinaus die Wälder des Terai Arc. Den Frauen ist durchaus bewusst, wie wichtig der Schutz der Wälder und ihrer Ressourcen ist. Die patriarchalische Kultur verbietet ihnen jedoch mitzubestimmen, wie der Wald genutzt werden soll. Möglichkeiten, eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, gibt es für Frauen kaum, auch der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist schlecht.
Der Ansatz
Im Laufe des Projekts hat der WWF rund 25.000 Haushalte mit Biogasöfen versorgt, um die Abhängigkeit von Brennholz zu verringern. Die Biogasöfen sorgen nicht nur dafür, dass der Druck auf die Wälder abnimmt. Sie entlasten die Frauen auch vom zeitaufwändigen und gefährlichen Brennholzsammeln und sind weniger gesundheitsschädlich als offenes Feuer.
Partnerorganisationen haben Wasser aus sauberen Quellen in die Dörfer geleitet, damit die Frauen nicht mehr mühsam Wasser holen müssen. Parallel dazu wurden degradierte Wassereinzugsgebiete wiederhergestellt – denn nur so ist die Wassersicherheit langfristig gewährleistet.
Die Schlüsselerkenntnisse
Das Geschlecht spielt eine entscheidende Rolle beim Schutz der Biodiversität in der Terai-Arc-Landschaft. Weil Frauen kaum Möglichkeiten haben, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sind sie besonders abhängig von den Ressourcen der Wälder. Die Ökosysteme und die Biodiversität der Wälder können nur erhalten werden, wenn die Lebensumstände der Frauen verbessert und für Geschlechtergerechtigkeit gekämpft wird.
Das Terai-Arc-Projekt trägt als Naturschutzprojekt zu den SDGs 6, 7, 10 und 15 bei, die den Schutz, die Wiederherstellung und die nachhaltige Nutzung von Ökosystemen und den Zugang zu bezahlbarer und sauberer Energie und zu sauberem Trinkwasser umfassen. Darüber hinaus leistet das Projekt aber auch einen immensen Beitrag zu SDG 5, das Geschlechtergleichstellung erreichen und Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen möchte: Die Frauen von Terai Arc können die Zeit, die sie früher auf Brennholzsammeln und Wasserholen verwenden mussten, nun nutzen, um sich weiterzubilden und alternative Einkommensquellen auszuloten. Denkbar sind hier kleine Unternehmen, die durch Mikrokreditprogramme finanziert werden – beispielsweise Schneidereien, Schönheitssalons oder Geflügelzucht.
Alto Fragua Indiwasi, Kolumbien: Wie inklusiver Naturschutz den Frieden sichert
Der Alto-Fragua-Indiwasi-Nationalpark erstreckt sich im Departemento Caquetá über eine Fläche von 74.555 Hektar. Die Region gehört zu den wichtigsten Biodiversitätshotspots weltweit, treffen hier doch drei Epizentren der biologischen Vielfalt aufeinander – der Chocó, die Anden und der Amazonas.
Der Nationalpark umfasst außerdem Gebiete, die der indigenen Bevölkerung der Ingano heilig sind, da dort Heilpflanzen wie Yage und Yoco wachsen. Die Gründung des Nationalparks im Jahr 2002 war der erste Versuch in Kolumbien, auf angestammtem Land der indigenen Bevölkerung ein Schutzgebiet zu etablieren, das den Zusammenhang von biologischer und kultureller Vielfalt berücksichtig.
Während des jahrzehntelangen Bürgerkriegs in Kolumbien war das Departemento Caquetà Hauptschauplatz der gewalttätigen Auseinandersetzungen. Der bewaffnete Konflikt ist in dieser Region eng mit dem Kokaanbau und dem Drogenhandel verknüpft, der bis in die frühen 1980er-Jahre zurückreicht und viele verarmte Bäuer:innen aus anderen Teilen Kolumbiens in die abgelegene Grenzregion lockte. Die harten Drogenbekämpfungsmaßnahmen der kolumbianischen Regierung und der Vereinigten Staaten konnten wenig gegen die illegale Kokaindustrie in Caquetá ausrichten. Sowohl der illegale Kokaanbau als auch die Regierungsstrategien zu seiner Bekämpfung stellen eine große Bedrohung für den Schutz des Alto-Fragua-Indiwasi-Nationalparks dar.
Die Herausforderung
In Kolumbien ist der Zugang zu Land und dessen Nutzung so ungerecht verteilt wie fast nirgendwo sonst auf der Welt.
1,1 Prozent der großen landwirtschaftlichen Betriebe besitzen 81 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche Kolumbiens. Diese soziale Ungleichheit ist nicht nur die Hauptursache für Gewalt und Konflikte, sie bedroht auch die einzigartige Biodiversität: Zahlreiche landlose und verarmte Kleinbäuer:innen leben im Alto-Fragua-Indiwasi-Nationalpark und bauen dort illegal Koka an, was erheblich zu Entwaldung und Fragmentierung der Ökosysteme beiträgt. Weil die Kokaernte von Paramilitärs und Guerillagruppen wie der FARC kontrolliert wird, ist ein effektiver Schutz des Nationalparks nahezu unmöglich, da die Autorität der Parkverwaltung permanent unterminiert wird.
Zwar hat die Regierung im Jahr 2016 ein Friedensabkommen mit der FARC geschlossen, dennoch steht Kolumbien vor großen Herausforderungen: Menschenrechte, Gerechtigkeit, Demokratie, Entwicklung und Sicherheit müssen wiederhergestellt und gestärkt werden.
Der Ansatz
Um Kolumbien bei den Friedensbemühungen zu unterstützen, zieht der WWF regionale Gemeinschaften in seine Naturschutzbemühungen mit ein, indem die Lebensbedingungen der Menschen verbessert und Konflikte um Landnutzung friedlich und im Dialog gelöst werden.
Dazu werden Vertreter:innen der Gemeinschaften darin geschult, ihre Rechte und Interessen zu artikulieren, zu verteidigen und durchzusetzen. Der WWF entwickelt mit der regionalen Bevölkerung eine gemeinsame Vision für das Territorium und macht den finanziellen und nicht-finanziellen Nutzen, den der Schutz des Nationalparks bietet, für alle Beteiligten transparent. So wird das soziale Gefüge gestärkt und es können Institutionen etabliert werden, die die Verwaltung und den effektiven Schutz des Alto-Fragua-Indiwasi-Nationalparks und seiner reichen Biodiversität ermöglichen.
Die Schlüsselerkenntnisse
In Regionen, die von bewaffneten Konflikten betroffen sind oder sich in einem Umbruch befinden, müssen Naturschutzmaßnahmen an die fragile Situation angepasst werden. Ein inklusiver Naturschutzansatz, der die regionale Bevölkerung und ihre Rechte stärkt, wirkt sich positiv auf den Friedensprozess aus – das zeigt das Beispiel des Alto-Fragua-Indiwasi-Nationalparks.
Das Projekt trägt also nicht nur zu SDG 15 bei, das den Schutz, die Wiederherstellung und die nachhaltige Nutzung von Ökosystemen im Blick hat. Es unterstützt darüber hinaus ganz besonders das SDG 16, das Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen umfasst.
Menschen und Naturschutz
Das sind die Herausforderungen in der Entwicklungszusammenarbeit und im Naturschutz. Weiterlesen ...