Berlin, 28.12.20: Für Feldhamster, Tintenfische und Lemuren war 2020 laut der WWF-Jahresbilanz kein gutes Jahr. Die Bestände sind rückläufig und die Bedrohungen nehmen weiter zu. Ihr Schicksal steht stellvertretend für das tausender Arten: Seit nunmehr 46 Jahren schwinden die Wirbeltierbestände laut Living-Planet-Report 2020 im Durchschnitt um 68 Prozent. Die Internationale Rote Liste verbucht mittlerweile mehr als 35.700 Tier- und Pflanzenarten als bedroht. Das betrifft knapp 30 Prozent aller dort erfassten Spezies.
„Die Klimakrise, Zerstörung von Lebensraum, Überfischung der Meere und Wilderei: Der Mensch verursacht gerade das größte Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier-Zeit“, warnt WWF-Vorstand Eberhard Brandes. „Es geht nicht mehr nur um die Beseitigung eines Umweltproblems, sondern um unsere Zukunft. Eine intakte Natur ist von existenzieller Bedeutung für uns alle, denn ist die Erde krank, werden es auch die Menschen. Das hat uns nicht zuletzt die Corona-Pandemie schmerzlich vor Augen geführt. Schließlich war der Sprung eines Virus vom Wildtier auf den Menschen Auslöser dieser Katastrophe. Dabei sagt die Wissenschaft, dass Umweltzerstörung solche Krankheits-Übersprünge von Wildtieren auf Menschen wahrscheinlicher machen – jetzt und in Zukunft.“ Wenn vitale Ökosysteme zerstört werden und natürliche Barrieren wegfallen, bringt das Arten in Kontakt zueinander, die vorher nicht im Kontakt waren. Außerdem entsteht eine neue, räumliche Nähe zum Menschen. Eine brasilianische Studie aus 2010 zeigt: Die Abholzung von vier Prozent eines Waldes ging mit einer fast 50-prozentigen Zunahme der Malariafälle beim Menschen einher.
Doch der Mensch kann den Verlust der biologischen Vielfalt noch stoppen und rückgängig machen – das zeigen die Gewinner. Dank internationaler Zuchtprogramme und langjähriger Wiederansiedlungsprojekte kehren die Wisente langsam zurück. In Afrika wurden merklich weniger Nashörner gewildert. In Deutschland feiern Elche und Kegelrobben ihr Comeback. „Artenschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: Wir müssen den Verlust an biologischer Vielfalt stoppen und umkehren. Der WWF fordert daher ein Drittel der Erde unter Schutz zu stellen und Artenschutz zur Querschnittsaufgabe zu machen. Das geht weit über den klassischen Umweltsektor hinaus. Ob Straßenbau, Bildungspolitik oder Haushaltsplanung: Biodiversitätsschutz muss mitgedacht werden“, bilanziert Brandes.
Verlierer 2020:
Feldhamster: Seit 2020 führt die Internationale Rote Liste den Europäischen Feldhamster in der Rubrik „vom Aussterben bedroht“. Setzt sich der Trend fort, wird er die nächsten 30 Jahre nicht überleben. Sein Überlebenskampf steht stellvertretend für den tausender heimischer Tiere und Pflanzen, die unter den Folgen der intensiven Landwirtschaft leiden.
Lemuren: Von den insgesamt 107 heute noch lebenden Lemurenarten gelten nach der aktuellen Roten Liste schon 103 Arten als bedroht. Ihre Wälder werden gerodet, Lebensräume in landwirtschaftliche Flächen umgewandelt. Auch die direkte Jagd auf die Tiere lässt die Bestände schrumpfen.
Störe und Löffelstöre: Mit dem Schwertstör gilt nun der erste Vertreter der Störartigen als (in der Neuzeit) ausgestorben. Weitere könnten folgen, denn 85 Prozent der Arten dieser uralten Tierordnung, zu denen auch die Störe zählen, sind bedroht. Dammbauten versperren ihnen den Weg zu ihren Laichgebieten. Zudem werden die Störe wegen ihres Fleisches und ihrer Eier (Kaviar) weltweit gefangen.
Tintenfische: Zwar könnten die Tintenfische zu den Gewinnern der Klimakrise zählen, doch zugleich wächst der Appetit auf Kopffüßler - und damit die Fischerei. Im Indischen Ozean nahm die Zahl der unregulierten Tintenfisch-Fischereien in den vergangenen fünf Jahren um 830 Prozent zu. Der rapide Anstieg bedroht auch das ozeanische Nahrungsnetz. Dort spielen Tintenfische eine entscheidende Rolle, da sie Beutetiere der Thunfische sind. Ein Hauptabsatzmarkt ist dabei Europa. Der WWF fordert daher ein nachhaltiges Fischereimanagement – nicht nur für Tintenfische.
Australische Tiere: Fast 3 Milliarden Wirbeltiere waren von den verheerenden Buschbränden in Australien betroffen. Für die Känguru-Insel-Schmalfußbeutelmaus wird es besonders brenzlich. Über 98 Prozent ihres Lebensraums fegten im Frühjahr die Feuer hinweg. Bereits vor den Bränden gab es nur noch weniger als 500 Individuen. Heute sind es vielleicht nur noch knapp 50. Auch anderen Beuteltieren, wie den bekannten Koalas, machen die immer stärker werdenden Brände in Australien zu schaffen. 60.000 von ihnen, so ein WWF-Report, waren massiv von den Bränden betroffen. Und auch in diesem Dezember wüteten bereits die Flammen – etwa auf der Insel Fraser Island, die Weltnaturerbe ist.
Makohaie: Die schnellsten Haie der Welt sind zu Gejagten geworden – und das wegen ihres Fleisches und der Flossen. Besonders der Kurzflossen-Mako wird in Thunfisch-Fischereien als lukrativer Zweitfang mitgefangen. Die nordatlantische Population ist jedoch dadurch so überfischt, dass es fünf Jahrzehnte dauern könnte, bis sie sich erholt. Ein kompletter Bann der Fischerei, der von vielen Nationen, darunter sogar China und Japan, für den Nordatlantik vorgeschlagen wurde, ist 2020 erneut an den Widerständen der USA und der EU gescheitert. Insgesamt sieht es für Haie und die eng verwandten Rochen in diesem Jahr nicht rosig aus: Laut neuer Roter Liste der Weltnaturschutzunion werden jetzt über 300 Arten von Haien und Rochen als bedroht eingestuft.
Gewinner 2020:
Spitzmaulnashörner: Mitte der 90er Jahre waren die Bestände des Spitzmaulnashorns in Afrika auf 2.410 Exemplare eingebrochen. Durch Lebensraumschutz, Umsiedlungsprogramme und Anti-Wilderei-Arbeit konnte der Bestand inzwischen auf immerhin 5.600 Tiere anwachsen. Im Jahr 2020 wurde die hauptsächlich in Namibia vorkommende Unterart, das südwestliche Spitzmaulnashorn, auf der Internationalen Roten Liste offiziell von „gefährdet“ auf „gering gefährdet“ herabgestuft. Die Art als Ganzes gilt aber weiterhin als vom Aussterben bedroht.
Wisent: Vor fast 100 Jahren starb der letzte freilebende Wisent im Kaukasus. Dank internationaler Zuchtprogramme und langjähriger Wiederansiedlungsprojekte kehren die Tiere wieder zurück. Nach Auswertungen der letzten Winterzählungen (2019/2020) hat sich der Bestand in drei Wiederansiedlungsgebieten des russischen Kaukasus auf 160 Tiere weiter erhöht. Im Jahr 2016 waren es noch nur 105 Exemplare. Zudem ist es 2020 erneut gelungen, weitere Wisente aus europäischen Zoos wohlbehalten in den Norden Aserbaidschans zu transportieren. Mit dem im Zoo Berlin geborenen Wisentbullen Beppo ist auch ein waschechter Berliner nun im Kaukasus unterwegs. Die positive Entwicklung der Wisente in Europa quittierte die Rote Liste zu Jahresende auch mit einer geringeren Gefährdungskategorie.
Seegurken: In Asien gelten sie als Delikatesse. Nachdem die Seegurkenbestände lokal um bis zu 90 Prozent eingebrochen sind, wurden nach jahrelangen Blockaden drei besonders wertvolle Arten in das Washingtoner Artenschutzabkommen aufgenommen. Seit diesem Jahr wird der Fang damit reguliert und der Überfischung (hoffentlich) ein Ende bereitet. Positiv dürfte sich das auch auf das Ökosystem Meer auswirken, wo Seegurken der durch die Klimakrise bedingten Versauerung entgegenwirken: Wie ein Staubsauger nehmen sie Sedimente auf, scheiden diese als gereinigten Sand aus und erhöhen so den pH-Wert am Meeresgrund.
Elche: Dank erfolgreicher Schutzmaßnahmen zieht es seit einigen Jahren immer wieder Elche aus Osteuropa nach Deutschland. Im Frühjahr wurde nun eine Elchkuh mit Jungtier gesichtet. Zwar liegen zur Fortpflanzung hierzulande noch keine Zahlen vor, die Entdeckung macht aber Hoffnung, dass sich die größte Hirschart hier immer mehr zu Hause fühlt.
Kegelrobbe: Als angeblicher Konkurrent der Fischer wurde Deutschlands größtes Raubtier nahezu ausgerottet. Die Deutsche Rote Liste führt den Bestand in der Ostsee bis heute in der Kategorie „stark gefährdet“, den in der Nordsee als „gefährdet“. Hoffnung macht die diesjährige Wurfsaison: Auf Helgoland wurden bis Anfang November mehr als 500 Kegelrobbenjunge geboren – ein neuer Rekordstand. Auch in der gesamten Ostsee erholen sich die Bestände allmählich. Wurden dort Anfang der 80er Jahre nur noch 2.500 Tiere gezählt, liegt die Population seit dem Vorjahr bei rund 38.000 Individuen.